Karlos Santamaria eta haren idazlanak
Diskussionsfreiheit in der Kirche
Dokumente, 1951
Es gibt Menschen, die glauben, wir Katholiken hätten nicht das Recht, selbständig zu denken, sondern müßten alles von gewissen totalitären Entscheidungen oder Belehrungen erwarten, in denen uns in allen Einzelheiten, mit eindeutiger Klarheit und weiser Sorge gesagt wird, was wir in jedem Augenblick zu wissen, zu glauben und zu tun haben.
Wer so denkt, der opfert lieber die persönliche Eigenart und die schöpferische Kraft der katholischen Denker auf den Altären des Gehorsams und der Unterwerfung unter die Kirche, als daß er diese Kirche der Gefahr neuer Häresien und innerer Spaltungen aussetzte. Mit Recht: denn das zweite der beiden Extreme ist das schlimmere, und es ist darum in Ordnung, wenn die —an sich noch so berechtigten— Bestrebungen nach Neuerung und Fortschritt gezügelt werden, sobald sie Einheit und Zucht der Kirche oder die Reinheit ihrer Lehre zu gefährden drohen. Eine tugendhafte Unterwerfung unter die kirchliche Obrigkeit —selbst in der Annahme, daß diese im Irrtum sei— stellt höhere Anforderungen und ist wertvoller als sämtliche ideologischen Entdeckungen, die jemand in der Haltung des Aufruhrs machen könnte. Wenn man uns Katholiken vorwirft, daß wir so denken, dann müssen wir betonen, daß solche Vorwürfe zwar ungerecht sind, aber dennoch in einer realen Tatsache ihren Grund haben» ist doch letztlich das Wesen unserer christlichen Haltung eine bedingungslose Ergebenheit an Christus und an die Kirche, die ihn verkörpert.
Gleichwohl ist eine systematische Gleichschaltung der Geister und eine jede Entwicklung ausschließende Auffassung unannehmbar.
Tatsächlich irren jene, die meinen, es sei nach zweitausend Jahren Christentum kein Raum mehr für die Initiative und den Scharfsinn der neuen Generationen; es seien alle grundlegenden Erfahrungen bereits gemacht, und von nun an habe die Arbeit der Wißbegierigen sich darauf zu beschränken, alte Handschriften zu erforschen und die Lehren der Kirchenväter vergangener Jahrhunderte zu kommentieren und anzuwenden.
Weil wir in einer Atmosphäre des Zweifels und des Pessimismus leben, und weil der Skeptizismus unserer Umwelt schwer auf uns lastet, verfallen wir zuweilen der Versuchung, an der Fruchtbarkeit und Lebensfähigkeit der Kirche zu zweifeln. Wenn wir aber in die Zukunft schauen dürften, dann könnten wir vielleicht die Gestalten neuer Kirchenlehrer bewundern, die von denen anderer Zeiten außerordentlich verschieden und ihnen zugleich seltsam ähnlich sind. Wir wären dann die Zeugen neuer Triumphe und großartiger sozialer Taten, die in ihrem Wesen mit denen der Vergangenheit übereinstimmen, aber unter anderen Formen erscheinen: voller Ursprünglichkeit und viel vollkommener und besser als jene. Das würde uns aber auf der anderen Seite nicht hindern, in der künftigen Kirche dieselbe Institution zu erkenne, die wir heute kennen und lieben, die gleiche, welche die Christen anderer Zeiten gekannt und geliebt haben.
Der «Immobilismus» ist verdammenswert. Wer Leben sagt, sagt auch Beweglichkeit und Spontaneität. Wer Menschenleben sagt, der meint noch mehr: er meint ewige Neuheit, denn nur das Leben des Instinktes wiederholt sich in festgelegten Zyklen.
Die Kirche verharrt also nicht im Zustand der Unbeweglichkeit: in ihren Taten zeigt sie eine ständige Entwicklung. Der heilige Vater hat es unlängst eindeutig formuliert: «Es ist wahr, daß jene im Irrtum sind, die, getrieben vor einer kindischen oder maßlosen Sucht nach Neuerung, mit ihren Lehren, Taten und Umtrieben die Unwandelbarkeit der Kirche gefährden. Aber es ist darum nicht weniger gewiß, daß auch die sich täuschen würden, die es unternehmen wollten, sie mehr oder weniger bewußt in eine sterile Unbeweglichkeit einzuengen. Die Kirche, der mystische Leib Christi, ist wie die Menschen, die zusammen sie bilden: ein lebendiger Organismus, der in seiner Substanz immer sich selber gleichbleibt; und Petrus würde in der römisch-katholischen Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts jene erste Gemeinschaft von Gläubigen wieder kennen, zu denen er am Pfingsttage gesprochen hat. Aber der lebendige Leib wächst, entwickelt sich und geht der Reife entgegen. Wie die physischen Glieder, aus denen er besteht, wächst und bewegt sich der mystische Leib Christi nicht in einem abstrakten Raum, außerhalb der unaufhörlich sich wandelnden Bedingdunge von Raum und Zeit, er ist nicht losgelöst von der ihn umgebenden Welt: er gehört immer seinem Zeitalter an, schreitet von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde mit ihm voran, indem er beständig seine Methoden und sein Verhalten der Gesellschaft angleicht, in deren Mitte er wirken soll»[1].
Tatsächlich zeigt die Geschichte der Kirche, wie rasch in ihr im Laufe der Jahrhunderte die Verschiedenheit der Meinungen, die Lust an der Originalität mit der Pflege der ehrwürdigen Traditionen und der sorgfältigen Bewahrung der bereits gewonnenen Wahrheit zu einem Einklang gekommen sind.
Darum irren alle, die von der Kirche jede Spur von Problematik oder Diskussion fernhalten wollen und nicht bedenken, daß die besonnene Unruhe des Geistes, daß das Gespräch und die Kontroverse unumgängliche Elemente des Fortschritts sind.
Die Gewinnung der Wahrheit gehört nicht, wie man auf den ersten Blick meinen möchte, ausschließlich der individuellen Sphäre an: sie ist ein gemeinschaftliches Werk, das durch die Zusammenarbeit vieler Menschen, ja vieler einander helfenden und berichtigenden Generationen zustande kommen muß. Um richtig zu denken, bedürfen wir fast immer der Mitarbeit eines Gegners. In die Luft schlagen ist eine recht undankbare Arbeit: wir brauchen stets einen Amboß, auf den unsere Schläge fallen.
Bei der Betrachtung solcher Unternehmungen des Geistes vergessen wir häufig die wichtige Rolle, welche die Irrenden spielen, indem sie ihre Gegner zwingen, vielleicht noch unerforschte Wege zu beschreiten. So hilft auch der Irrende mit an der Aufgabe der Wahrheitsgewinnung zuweilen sogar in höherem Grade als einer, der im Sicheren verbleibt.
Es ist tatsächlich nicht selten, daß ein Gegner, der sich täuscht, neben zweideutigem Gestammel die Schlüsselidee beibringt, welche die verschlossenen Türen zu einer Welt von neuen Ideen öffnet. Die von Anbeginn der Diskussion auf der Seite der Wahrheit standen, trösten sich zuweilen hinterher und sagen: «Seht ihr, wie recht wir hatten»; aber wir können nie sagen, bis zu welchem Grade wir die Gewinnung der Wahrheit auch den Irrenden verdanken. Natürlich nicht wegen ihrer Irrtümer, sondern wegen der guten Ideen, die sie zusammen mit einer großen Zahl von Irrtümern in die Diskussion zu bringen wußten.
Jede Untersuchung setzt eine Ungewißheit voraus, ein Tasten, ein Verflechten und Entflechten von Problemen, ein Sich-Verlieren, damit man hinterher sich wieder finden könne. Der Forscher führt ein Gespräch mit sic selbst, mit seinen Freunden, ja mit seinen Gegnern. Indem er sich auf der noch unsicheren und zuweilen verworrenen Linie bewegt, die Wahrheit und Irrtum scheidet, ist er ständig der Gefahr ausgesetzt, sich zu täuschen, wenn er aber dieses Wagnis nicht auf sich nimmt, läuft er Gefahr, die Gemeinplätze —diese Nachhut der Wahrheit— niemals loszuwerden und der Wiederholung von Altbekanntem zu verfallen.
«Wir müssen uns den Mut zum Irrtum bewahren», hat man gesagt, das ist richtig, sofern wir auch den Mut bewahren, im gegebenen Augenblick unseren Irrtum richtigzustellen. Auch die christlichen Denker sind dieser Möglichkeit des Irrtums unterworfen, wie gut ihre Absicht auch sein mag. Aber die Irrtümer verlieren an Bedeutung, wenn es ein unfehlbares Lehramt gibt, und wenn wir geneigt sind, es in Ehrerbietung anzuerkennen.
Der Häretiker ist nicht nur ein Mensch, der geirrt hat, sondern darüber hinaus und vor allem ein Ungehorsamer, ein Hochmütiger, der seinen Irrtum nicht zugeben und die Autorität des krichlichen Lehramtes nicht anerkennen will. Dieser Geist der Unbotmäßigkeit ist, nebenbei gesagt, viel häufiger als Scharfsinn und Genie, die nötig sind, um falsche Dinge von einiger Bedeutung zu denken und zu sagen; und wenn es nicht noch viel mehr Häretiker gibt, so liegt das vielleicht weniger an einem Mangel an bösem Willen als an dem Fehlen genialer Intelligenzen.
Der geistige fortschritt, die Vertiefung der Wahrheit und die berechtigte Verschiedenheit der Meinung erfordern somit eine gewisse Freiheit der Diskussion.
Wer annimmt, im Schoß der Kirche werde diese Freiheit verneint, kennt das Wesen und das Leben dieser Kirche nur schlecht oder verkennt es vollkommen, denn er verwechselt ihre Natur mit der Natur der totalitären oder autoritären Staaten.
«Es gehört zu den lebenswichtigen Forderungen einer jeden menschlichen Gemeinschaft und somit auch der Kirche und des Staates», sagte einmal Pius XII, «daß in der Verschiedenheit der Meinungen die Einheit dauerhaft gesichert sei»[2]. Aber dieser Notwendigkeit, fügt der Papst hinzu, wird weder der Totalitarismus gerecht, «welcher der Macht eine ungebührliche Ausdehnung gibt, indem er alle Gebiete der gesellschaftlichen Aktivität umfaßt und das gesamte persönliche, örtliche oder berufliche Leben zu einer mechanischen Einheit oder Kollektivität zusammenschließt...», noch der Autoritarismus , «der die Bürger von jeder wirksamen Teilhabe, von jedem wirksamen Einfluß bei der Bildung des gesellschaftlichen Willens ausschließt...».
Die Kirche ist auf keine Wiese ein Autoritarismus oder ein Totalitarismus. Ihre Auffassung von der Gesellschaft gründet sich auf eine fast grenzenlose Achtung vor der Person, die stets in eine großartige theologische Perspektive hineingenommen ist.
Ganz offenbar ist die Kirche ebensowenig eine Demokratie; aber das hat andere Gründe und gewiß nicht den, daß es in ihr eine mit der menschlichen Würde und mit der Wirklichkeit der absoluten Werte vollkommen vereinbare Freiheit des Denkens und der Diskussion nicht gäbe. Nie darf diese Freiheit von den Christen selbst in Verruf gebracht oder verkannt werden. Initiative und Eigenart des Menschen —diese beiden großen Seefahrer des Geistes, diese unermüdlichen Entdecker und Eroberer —verlieren durch ihre Aufnahme in das Leben der Kirche nichts von ihrem echten Inhalt—. Bei einem so heiklen und wichtigen Thema wie der Diskussionsfreiheit müssen wir jede Zweideutigkeit und Unklarheit vermeiden.
Die Freiheit kann in der Kirche nicht auf die gleiche Weise aufgefaßt werden wie in den bürgerlichen Gesellschaften, weil diese beiden Gemeinschaftsformen nach Ursprung und wesen, Funktion und Ziel verschieden sind.
Jede Gesellschaft gründet sich auf eine gemeinsame Wahrheit, auf etwas, das sich ausdrücklich, mit Worten, formulieren läßt oder sich zum mindesten in gesellschaftlichen Handlungen kundgibt, auf etwas, das nicht in Frage gestellt oder geleugnet werden kann, ohne daß die Gesellschaft sich selbst der Gefahr des Untergangs aussetzt. Das ist so sehr wahr, daß überall da, wo eine solche Wahrheit nicht existiert, sie erfunden, und etwas anderes, das sie vertritt, an ihre Stelle gesetzt werden muß.
In keiner Gesellschaft, die sich einer guten Gesundheit erfreut, kann die Freiheit der Diskussion bis in diese tiefen, inneren Schichten der gesellschaftlichen Wahrheit vordringen, das hieß ständig in Todesgefahr leben.
Während aber in einer normalen Gesellschaft diese gemeinsame Wahrheit ein in Freiheit Ausgenommenes und spontan Gelebtes sein muß, das darum eine natürliche und sehr weit gespannte Verschiedenheit der Meinungen nicht ausschließt, wird die Wahrheit in der totalitären Gesellschaft zu etwas gewaltsam Aufgezwungenem. Die Gewalt erkennt ungern Grenzen an, sie hat von Natur das Bestreben, ihr Aktionsfeld mehr und mehr auszudehnen, und darum sucht diese aufgezwungene Wahrheit alles zu erobern, eine totalitäre Wahrheit zu werden und keine andere Wahrheit, welcher Art auch immer, an ihrer Seite zu dulden.
Man hat scherzhaft gesagt, der totalitäre Staat sei jener, in dem alles, was nicht verboten, obligatorisch ist. Da nun zwischen Verbot und Verpflichtung nicht der geringste Spielraum für persönliche Originalität und Spontaneität bleibt, ist innerhalb des Totalitarismus —wenigstens des echten und vollkommenen— keine Diskussionsfreiheit möglich.
In den modernen Demokratien dagegen ist das Gut der Wahrheit auf ein Mindestmaß verkümmert und besteht fast nur mehr darin, daß man die Notwendigkeit gegenseitiger Toleranz einräumt, um miteinander leben zu können. Dieser Schatten von gesellschaftlicher Wahrheit nimmt nun für sich ein Höchstmaß an Meinungen oder «subjektiven Wahrheiten» in Anspruch. Einem solchen Gesellschaftstyp entspricht ein Minimum an ideologischer Basis, verbunden mit einem Maximum and Diskussionsfreitheit.
Auf der anderen Seite hat der Begriff des Staates eine Entwicklung durchlaufen. Es hat sich klar gezeigt, daß es viele Dinge gibt, die nicht zu seinem Bereich gehören, und daß ein Staat, der diese Dinge seinem rechtmäßigen Bestand an konstitutionellen und darum verpflichtenden und durch Gewalt vertretbaren Wahrheiten einverleiben wollte, als tyrannisch anzusehen wäre. Es könnte zum Beispiel sein, daß alle Bürger einer kleinen Nation darüber einig wären, daß die Musik von Bach wertvoller ist als die Musik der Neger. Das würde eine gemeinsame Überzeugung ergeben, die aber selbstverständlich der staatlichen Sphäre entrückt bliebe und eben darum dem konstitutionellen Zuständigkeitsbereich des Staates nicht eingefügt werden dürfte. Wenn wir dieses Beispiel auf die religiöse Wahrheit anwenden, ergibt sich ein heikles Problem, dessen Erörterung hier nicht am Platze ist. Uns interessiert lediglich die Feststellung, daß die Freiheit der Diskussion ihre eigenen Grenzen hat, die der Staat nicht überschreiten kann, ohne in Tyrannei auszuarten.
Es ist nur natürlich, daß in einer Epoche, da bei fast allen Völkern der Skeptizismus herrscht und glaube und Vertrauen an das Göttliche und Menschliche verlorengegangen sind, im allgemeinen diese beiden Haltungen die einzig möglichen sind: Entweder gibt man das Fehlen gemeinsamer Wahrheiten zu —dann bleibt als friedliche Lösung nur ein Regime großzügigster Toleranz; oder man will diese Tatsache nicht anerkennen— und dann bleibt nichts als Heuchelei, Gewalt und die Aufzwingung der totalitären Wahrheit.
Für die Kirche aber trifft keiner dieser Fälle zu. Vor allem ist die Wahrheit in der Kirche weder eine vereinbarte noch einer aufgezwungene Wahrheit, sondern eine zugleich empfangene und erworbene Wahrheit und überdies eine lebendige Wahrheit, die menschgewordene Wahrheit, die zu den Menschen gekommen ist und von den Menschen anerkannt wurde, indem sie mitten unter den Menschen lebte und sich offenbarte.
Die offenbarte Wahrheit ist in erster Linie etwas, das in unsere denkende Innerlichkeit einbricht oder auch sanft in sie eindringt: eine übernatürliche Gegenwart, die unseren Intellekt emporhebt zu einem Zustand der Helligkeit, der der reinen Vernunft nicht zugänglich ist. Durch die Offenbarung empfangen wir neue Beziehungen, neue Elemente der objektiven Wirklichkeit, «quae rationem humanam excedunt»[3] (welche die menschliche Vernunft übersteigen), und die keine rein natürliche Anstrengung unserem Erkennen je hätte vermitteln können. In diesem Sinne können wir das vom heiligen Thomas zitierte Wort des Ecclesiasticus auf den Christen anwenden: «Es wurden dir viele Dinge gezeigt, die das Denken der Menschen übersteigen». Die Offenbarung kommt auch unserer gegenwärtigen Verstandesschwäche zu Hilfe und zeigt uns Wahrheiten der rationalen Ordnung, die an sich der Vernunft zugänglich sind, die aber diese Vernunft nur auf eine unsichere, dunkle und unvollkommene Weise zu erkennen vermag. So ist die offenbarte Wahrheit vor allem eine empfangene Wahrheit, die sich uns von außen und von oben mitteilt.
Aber dieser höhere und außer uns liegende Ursprung der Offenbarung hat nicht zur Folge, daß sie uns von außen her tyrannisiert und die menschliche Freiheit gefährdet[4]; sie schafft ganz im Gegenteil eine unendlich kostbare Möglichkeit der Vervollkommnung, welche die unserer Innerlichkeit eigene Form nicht nur achtet, sondern stärkt und veredelt. Ebenso wie der Christ sich in keinem Falle durch das Sittengesetz oder durch die kirchliche Disziplin gehemmt, sondern viel eher sich dadurch im Guten gehalten und zu ihm hingetrieben und gedrängt fühlt —wenn etwas ihn der Freiheit beraubt, dann bestimmt nicht das Heilige Offizium, sondern die eigenen Laster und Leidenschaften—, so wird auch das Dogma oder das krichliche Lehramt seine Freiheit nicht einengen oder begrenzen, sondern im Gegenteil die Vernunft unterstützen, sie gegen die Möglichkeit des Irrtums sichern und sie antreiben, noch tiefer in den dichten und geheimnisvollen Leib der Wahrheit einzudringen.
Wenn also der menschliche Intellekt die offenbarte Wahrheit empfängt, fühlt er sich nicht von einer äußeren Macht versklavt, sondern, indem er sich in das Göttliche versenkt, blüht er auf und gibt aus sich selbst viel mehr, als er nach gutem irdischem Maß je von sich erhoffen könnte.
Wenn das Lehramt spricht, wie es kürzlich in der Enzyklika Humani Generis gesprochen hat, dann weiß der Katholik sehr wohl, welche Haltung er einnehmen soll, und er weiß auch, daß in ihr nichts Demütigendes oder Unwürdiges ist. Wie Bernard Delfgaauw sehr gut gesagt hat[5], dürfen wir diese feierliche Belehrung des Papstes weder mit der Angst entgegennehmen, es könne unsere eigene Freiheit beschnitten werden, noch auch mit einem Gefühl des Triumphes, weil uns darin in gewissen Punkten recht gegeben wird, sondern vielmehr in der ehrfürchtigen Haltung «des Glaubenden gegenüber dem Herrn, in der Haltung des Christen, der sich freut, wenn er die Stimme Christi hört. Wenn der Papst spricht, dann ist es Christus, der spricht und uns die Leitnormen erteilt, die unser Denken und unser Tun bestimmen sollen».
Der Katholik weiß, «daß der heilige Geist das sichtbare Oberhaupt der Kirche leitet und daß die Handlungen des Lehramtes —auch jene, denen nicht die Unfehlbarkeit zukommt— dieser göttlichen Führung nicht entraten»[6]. So gilt nicht der Person des Papstes, wie hoch wir von ihr auch denken mögen, die Ehrerbietung unseres Geistes, sondern dem Heiligen Geist, dem Spender allen Lichtes, dem Verteiler aller Gaben. Und gerade das läßt sich allen denen, die nicht an unserem Glauben teilhaben, so schwer begreiflich machen.
Aber die Wahrheit in der Kirche ist noch nur eine empfangene, sondern auch eine erworbene Wahrheit. Denn die Vernunft kann und muß sich diesem göttlichen Objekt der Offenbarung hingeben, nicht nur um es zu prüfen und in einer logischen und systematischen Ordnung auszudrücken, sondern auch um es nach Möglichkeit zu erklären (lateinisch: ex-plicare = entfalten!) und die zahlreichen Folgerungen daraus abzuleiten, die unser spekulatives Verlangen und unsere individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse erfordern. Darum gibt es eine wirkliche theologische Wissenschaft, die sich von den übrigen Wissenschaften dadurch unterscheidet, «daß sie mit Prinzipien arbeitet, die durch das Licht einer anderen, höheren Wissenschaft erkannt werden, welche die Wissenschaft Gottes und der Seligen ist»[7].
Aus der Tatsache, daß die religiöse Wahrheit erworben werden kann, ergibt sich Wert und Notwendigkeit der Diskussion.
Die Diskussion in der Kirche ist in höchstem Grade konstruktiv; sie vollzieht sich unter Bedingungen, die in keiner bloß menschlichen Gesellschaft möglich sind. Während die Söhne der Menschen dazu verdammt sind, unaufhörlich das Gespinst der vergänglichen und unbeständigen Wahrheit zu knüpfen und aufzutrennen, bemüht man sich in der Gesellschaft der Kinder Gottes allezeit, «in der gleichen Ordnung und in der nämlichen Harmonie, die sich im Bau der Dinge offenbart, das Wahre zum Wahren zu fügen»[8].
In der rein philosophischen Ordnung ist praktisch alles diskutierbar, das heißt: es unterliegt alles der Diskussion zwischen konkreten und existierenden Menschen. Das bedeutet keineswegs, daß die Wahrheit —selbst nach dem Sündenfall— der menschlichen Vernunft unerreichbar sei; es bedeutet nur, daß es Menschen geben kann, die geneigt sind, die Evidenz zu leugnen oder wenigstens in Zweifel zu zeihen, ohne daß man ihnen darum Unwahrhaftigkeit oder bösen Willen zuschreiben könnte. Ohne die Offenbarung erscheinen die sittlichen Wahrheiten verworren, schwankend und stets in Gefahr, bei den Schiffbrüchen der Menschheit unterzugehen. Die Offenbarung ist also notwendig, damit dem Verstand nicht sozusagen durch die Fugen der Seele der letzte Atem der Gewißheit entweiche.
Hier liegt auch eine Erklärung für die Tragödie des philosophischen Denkens: wir sehen heute die Menschen niederreißen, was sie gestern mit großer Mühsal erbauten. Es gibt keinen Philosophen, der etwas auf sich hält und nicht damit begänne, alles oder doch fast alles zu verneinen, was seine Vorgänger bejahten: eben dadurch stellt er seine Originalität unter Beweis! Ein jeder muß mitten auf einem Ruinenfeld sein eigenes Gebäude errichten. So sieht das geistige Panorama der Welt ohne Offenbarung aus.
Ohne die Offenbarung vermögen wir auch dem doppelten Abgrund des agnostischen Liberalismus und des Totalitarismus nicht zu entrinnen. Denn ohne Offenbarung können in dem gegenwärtigen Zustand des Menschengeschlechtes die grundlegenden Wahrheiten, auf denen jede gesellschaftliche Ordnung ruht, nicht von allen in ihrer ganzen Fülle und mit Gewißheit, nicht auf zuverlässige, sichere Weise und ohne Beimengung von Irrtümern erkannt werden[9].
Ganz anders dagegen im Schoß der Kirche. Wir wissen: Wenn wir in der Wahrheit sind, dann leben und nähren wir uns beständig aus ihr. Dann bedeutet Diskussionsfreiheit: Freiheit zum Aufbauen, aber nicht zum Zerstören. Dadurch entsteht ein innerer Fortschritt, indem Wahrheit zu Wahrheit gefügt und ohne Widerstreit und Erschütterung das Neue auf das Alte gesetzt wird. Die Kirche kennt keine wirklichen Denkkrisen; ihre Tiefenschichten bleiben stets unbewegt.
Die Welt von heute kennt freilich keinen Fortschritt dieser Art —eben weil es in ihr nichts ähnliches gibt und nicht geben kann. Sie steht der Kirche mit bemerkenswerter Verständnislosigkeit gegenüber, und das ist der Grund, warum man uns Katholiken manchmal als Opfer einer geistigen Diktatur ansieht. Dabei weiß sich der christliche Denker bei seiner vernunftgemäßen Forschung vollkommen frei und unterstützt von der Schar der christlichen Denker aller Zeiten: von den bedeutendsten Lehrern der Kirche bis zum unbekanntesten Gläubigen, der imstande ist, zu beten und aufrichtig den Glauben zu leben.
Leider ist die Neigung recht verbreitet, den Bereich des Diskutierbaren zu verkleinern und einzuengen und alle Fragen als eindeutig gelöst hinzustellen. Man vergißt zuweilen die geheimnisvolle und transzendente Dimension der religiösen Wahrheit. Man will einen mathematischen Begriff aus ihr machen, eine Art Arithmetik, welche die Bewegungen der Christen mit der gleichen Starrheit und Schicksalhaftigkeit regelt, mit der die Gesetze der Himmelsmechanik die Bewegungen der Planeten regieren oder vielmehr regierten, denn heute glaubt fast niemand mehr daran.
Man hat die Tendenz, das «in necessariis unitas» (im Notwendigen Einheit) auf Kosten des «in dubiis libertas» (in Zweifelfällen Freiheit) maßlos zu übersteigern. Man errichtet besondere Systeme auf einer viel höheren Ebene, als ihnen entspricht, und es gibt Leute, die sich ihrer wie eines Besens bedienen, um widersprechende Meinungen damit wegzufegen. Man hält sogar jene Art geistiger Disziplin oder Akrobatik für etwas Gutes, welche die «Standardisierung» des Denkens so weit treibt, daß die Menschen schließlich glauben, das Ideal sei ein Denken auf Grund von Gemeinplätzen und im voraus zurechtgemachten Schemata....
Ich glaube, daß man die persönliche Freiheit nicht auf engere Grenzen einschränken darf, als die Wahrheit selber es verlangt. Das Denken des Christen muß seine ganze fruchtbare Fülle bewahren, und auf keinen Fall darf man es auf einen bloßen Denkautomatismus reduzieren. H. Marrou hat Recht, wenn er sagt: «Orthodoxie darf nicht mit geistiger Trägheit, und Sicherheit der Lehre nicht mit Nachschwätzerei verwechselt werden».
Vom psychologischen Gesichtspunkt aus ist jenes Verfahren eine schlimme Methode: sie führt im Effekt zu einem Zustand, den man als «totalitäre Faulheit» bezeichnen könnte. Der menschliche Intellekt bedarf der ständigen Befruchtung durch das Problematische und Geheimnisvolle, um sich seine Aktivität zu erhalten. Was sich jemand nicht als Problem gestellt hat, das kann er auch nicht als Lösung verarbeiten; daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Fragen, die andere gelöst haben, neu zu denken oder in uns lebendig zu machen. Weil sie nicht in dieser Weise vorgehen, laufen so viele schwindsüchtige Intellektuelle herum; Magazine leerer Worte, die mit ihrer Unaufrichtigkeit hausieren gehen.
Es gibt, vor allem unter den Intellektuellen, viele Menschen, die unter der Vorstellung leiden, das Christentum sei nur eine Sammlung von kleinlichen Formeln, die man sowohl in der Ordnung der Moral wie in der des Glaubens nach dem Buchstaben anwenden müsse. Diese ängstliche und knauserige Auffassung von der Wahrheit kann zurechtgerückt werden, und ohne Frage würde man solchen Menschen eine große Wohltat erweisen, wenn sie vielleicht auch im ersten Augenblick eine ähnliche Aufregung erleben wie jemand, der in einen engen und tiefen Kerker gesperrt war und plötzlich auf den Gipfel eines sehr hohen Berges versetz wird.
Die Christen sollten darum, und wäre es auch nur aus erzieherischen Gründen, niemals den Blick auf die geheimnisvolle Seite unserer Glaubensinhalte verlieren. Der Gedanke an das Mysterium ist uns ein Halt in unserer Ungewißheit und bewahrt uns vor der Versuchung, wie manche Verkünder der «Einfalt» zu glauben, alles sei gar so leicht zu erklären.
Obwohl die Kirche zu allen Zeiten ihren Kindern in allen diskutierbaren Fragen weiteste Freiheit ließ —wobei sie eine außerordentliche Klugheit und Umsicht an den Tag legte und es vermied, in die Sphäre der berechtigten Sonder-Positionen einzubrechen—, gibt es doch noch viele Menschen, die an der gegenteiligen Ansicht festhalten. Sie glauben, daß es bei den religiösen Problemen weder Diskussion noch Originalität geben kann.
Selbstverständlich muß eine solche Haltung Menschen mit intellektueller Berufung abstoßen, und deshalb halten sich heute viele kultivierte, durch ihre Regsamkeit in anderen Zweigen der Wissenschaft rühmlich bekannte Geister von den theologischen Themen fern, denen einstmals die vorzügliche Aufmerksamkeit der scharfsinnigsten Köpfe galt.
In ihren richtigen Grenzen aufgefaßt, ist die Diskussionsfreiheit innerhalb der Kirche ein wünschenswertes Gut, und alle Christien sollten es verteidigen und pflegen. Um das zu erreiche, müssen wir dafür sorgen, daß die religiöse Kultur im Volk zunimmt und eine echte christliche Bildung nach und nach die engen und abergläubischen Meinungen verdrängt.
Vor allem ist es notwendig, daß eine Atmosphäre der Liebe unsere Geister erfülle. Aus der Liebe und nur aus ihr entsteht die echte Toleranz und jene Achtung vor der fremden Meinung, welche die Grundlage einer jeden konstruktiven Diskussion ist.
[Noten]
[1] Ansprache zum 50. Jahrestag des Päpstlichen Collegium Leonianum de Agnani am 29. April 1949.
[2] In einer Ansprache vom 2. Oktober 1945 vor dem Tribunal der Rota.
[3] Summa I q. I a 1.
[4] Theologische Enzyklopädie, Freiburg i. Br. 1935; Artikel von J. Blitz. Apologétique, Bloud & Gay 1948; Artikel von W. Cossens.
[5] In einem Artikel über die Enzyklika Humani Generis in der holländischen Zeitschrift «De Tijd» vom 15. September 1951.
[6] R.P. Rouquette: L'encyclique Humani Generis in: «Études», Oktober 1950 (Deutsch in «Dokumente», November 1950, S. 530-536).
[7] Summa I q. I a 2.
[8] Enzyklika Humani Generis.
[9] Enzyklika Humani Generis.
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